055. Die verwünschte Jungfrau auf dem Ziegenschachter Wege. |
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(Wenisch, Sagen aus dem Joachimsthaler Bezirke, S. 101.) In der zur Gemeinde Breitenbach gehörigen Ortschaft Ziegenschacht lebte vor langer Zeit eine Jungfrau, welche ihres Geizes und ihrer Ungerechtigkeit wegen gefürchtet war. Seit ihrer Verlobung kannte ihre Habsucht keine Grenzen. Um ihr Heiratsgut, woran ohnedies schon die Tränen der Armut hingen, zu vergrößern, bediente sie sich sogar beim Verkaufe der Milch eines so schlechten Maßes, dass sich darüber allgemeine Klagen erhoben. Als die hartherzige Jungfrau dieselben jedoch nicht berücksichtigte, wurde sie von einer Milchkäuferin verwünscht. Von dieser Stunde an wandelt die Jungfrau auf dem Ziegenschachter Wege noch bis heute herum. In der Hand trägt sie ein Milchseidel und auf dem Kopfe einen grünen Kranz. Doch sehen die verwünschte Jungfrau, die bloß zu gewissen Zeiten erscheint, nur wenige Menschen.
Auf die mögliche Verwandtschaft der Ziegenschachter Jungfrau mit der Huldra wurde bereits in der Einleitung hingewiesen. Eine thüringische Sage ist übrigens der unsrigen sehr ähnlich. Eine Krämerin, welche ihre Käufer durch falsches Gewicht und Maß betrog, wandelt ebenfalls als Gespenst in der Nähe von Mehlis bei dem Reißigersteine umher und ruft dabei. „Drei Viertel für ein Pfund. Drei Quärtchen für eine Kanne!“ (O. Richter, Deutscher Sagenschatz, 3. H. No. 10.) Dass aber gerade der Betrug beim Milchverkauf mit dem gespenstischen Umherwandeln der Betrüger bestraft wird, ist eine in der Volkssage erhaltene Erinnerung an den hohen, alle übrigen Besitztümer überragenden Wert der Milch und Milch gebenden Tiere aus dem frühesten Zeitalter der indoeuropäischen Völker. |